Call me Unbeholfenheit: Der Junge ist von Anfang an
verdorben. Wird kaum überleben, sagen die Ärzte, tut es aber doch. Aufgewachsen
im grauen Staubdreck von Manchester, frühe Sechziger, ein Einzelgänger, viel zu
intelligent, dazu völlig unbegabt zu Uneindeutigkeit, Unehrlichkeit, Un … unzugänglich,
unzulänglich. Papa begleitet Steven aufs T.Rex-Konzert, das sein Leben prägt:
Da, Bühne, will, muß er hinauf und der Welt zeigen, wie sie ist, was er ist,
daß das Leben mehr ist als das, was man im grauen Staubdreck von Manchester für
eine Existenz hält.
So wird er jugendlich, ohne Freunde, Kumpels, Clique,
Sozialität, mit dem Traum im Kopf, der sich nicht erfüllt. Zunächst. Weil er
nicht aussieht wie Jimmy Pursey, sich nicht bewegen kann wie Adam Ant, nicht
Johnny Rotten, Paul Simonon, nicht mal Howard Devoto ist. The boy least likely
too; daraus macht er keine Tugend, sondern eine Art Kunst – ein ungeheuer
anstrengendes Aufbäumen gegen sich selbst, einem Bryan Ferry nicht unähnlich,
aber ohne dessen Eleganz phantasierten Adels.
Ein zweiter spielt Gitarre, spielt unglaublich Gitarre, grundiert
ihm die Leinwand, die er für die Songs braucht, in die er seinen Haß und seine
Verzweiflung kotzt, „Meat Is Murder“, „Still Ill“, „Panic“; alles ist böse, und
als Song klingt es so schön, so unwiderstehlich schön. Er wirft Blumen von der
Bühne, die Medien schweigen entsetzt, und eines Tages sind die Smiths die neuen
Beatles. Und lösen sich auf, einfach so, aus Überdruß. Es ist alles gesagt.
Dann die Solokarriere, die explosionsartig beginnt mit „Viva
Hate“, den Aufschreien um „Margaret On The Guillotine“, wechselnden Co-Autoren,
immer unentschiedeneren Singles, die bald nur noch in den Top 40 dümpeln. „Kill
Uncle“ klingt wie vom Flohmarkt, „Piccadilly Palare“ mag er nicht bei Top Of
The Pops singen, weil er den komischen Song selber nicht versteht. Sackgasse.
Call Me Unbeholfenheit.
Also: finito? Popmusik ist sowieso over, Marc Bolan tot,
Roxy im ewigen Winterschlaf in Avalon, Bowie von Graphikdesignern, schlechten Ideen,
Produzenten und einer gläsernen Spinne massakriert. Im Moor von Saddlewood
begegnet Steven einem Gespenst. „Angel, Angel, Down We Go Together“. -- „Du
brauchst eine Band“, sagt ein Freund, „ruf Boz an.“
Boz: Rockabillygitarrist, dritte Liga, hat mit den Polecats
nie was gerissen, kennt aber paar Leute. Alain ist Straßenkehrer in Camden,
Spencer hat irgendwo ein Schlagzeug stehen, Gary haust bei seinem Vater in
Neasden. Und Boz und Alain wissen, um was es geht: Sie zerlegen „Hot Love“ von
T.Rex und töpfern daraus einen neuen Song, und mit „Certain People I Know“ ist
eine Band geboren, eine Gang, die ein paar Wochen später von einer Flutwelle
manischer Hysterie durch Amerika geschwemmt wird, wie man sie tatsächlich seit
den Beatles nicht erlebt hat.
Der Dreh- und Angelpunkt ist „Your Arsenal“ – kein
Meisterwerk, nicht einmal ein wirklich rundes und schlüssiges Album, aber die
Wurzel, auf die letztlich alles zurückgeht, was in den nächsten zwanzig Jahren
passiert. Produziert von Mick Ronson, Bowies Gitarrist und Alter Ego der
unbegreiflichen Ziggy-Stardust-Jahre, nein: -Wochen. Ronson ist bald darauf
tot, Bowie covert „I Know It’s Gonna Happen Someday“. In Hollywood begegnen
sich die beiden beim Frühstück. „Du willst das nicht wirklich essen, oder?“
fragt Steven entsetzt. Bowie betrachtet den Wurstaufschnitt auf seinem Teller: „Oh, es muß die
HÖLLE sein, mit dir zusammenzuleben.“
Die Meisterwerke folgen dann, als Boz und Alain den Geist,
den sie gemeinsam mit Steven geschaffen haben, gänzlich entfesseln und tun
lassen, was er will, muß, kann. „Vauxhall & I“, „Southpaw Grammar“,
„Maladjusted“: immer gegen alle und alles und die angebliche Welt, die ihn
nicht will, im Gegensatz zu den Menschen, die begreifen. T.Rex sind inzwischen
nur noch ein paar Brösel in einer Schublade; selbst der Britpopkarneval geht an
ihm vorbei wie ein kleiner Schauer im Frühsommer. Eine lange Zwangspause, ohne
Label, ein enervierender Prozeß, dann folgt mit „You Are The Quarry“,
„Ringleader Of The Tormentors“ und „Years Of Refusal“ die Vollendung. Größer
kann Popmusik nicht sein, vorläufig.
Und hier hat alles angefangen, im Sommer 1992, mit diesem
Arsenal von Träumen, Verletzungen, Sehnsüchten, Enttäuschungen, von Haß, Trotz,
Verachtung und nicht zu erstickender Liebe. „We Hate It When Our Friends Become
Successful“, „You’re The One For Me, Fatty“ – Slogans, anyone? Und Angelhaken
für gesuchtes Falschverstehen? Galore: „We’ll Let You Know“ (Verherrlichung von
Fußball-Hooligans), „Glamorous Glue“ (Antiamerikanismus), „The National Front
Disco“ (sowieso).
Kinkerlitzchen, längst vergessen. Manchmal aber gibt es
nichts Schöneres, als noch mal von vorne anzufangen, „this time for real“ und
so. Also kaufen wir uns „Your Arsenal“ ein zweites Mal und machen diesen
Frühling zum wunderbarsten, den es je gab: Call Me Ewigkeit.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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