Wie, wann und warum aus temporärer Verknallung Liebe wird,
ist eine komplizierte Frage. Wahrscheinlich irgendwas mit Gewohnheit, die neben
Langeweile, Neugier und Dummheit eine der wichtigsten Motivationsquellen
unseres gesamten Handelns, Denkens und Fühlens ist. Man gewöhnt sich an fast
alles, vom eigenen krummen Zehennagel bis zum nächtlichen Piepsgeräusch eines
anderen Menschen, den ein Zufall (noch so ein Faktor, s. o.) an den Strand der
Lebensinsel geschwemmt hat: Irgendwann verwächst das Fremde mit dem Eigenen und
wird eins.
Es braucht sich aber nur ein Detail zu ändern und ein
dringlicher Vorfrühling hinzuzukommen, schon verschwören sich Neugier und
Überdruß (vgl. Langeweile) und machen das ganze Strandgut zum Fremdkörper, den
man ausgraben, abtrennen und möglichst spurlos verschwinden lassen möchte,
wofür es scharfe, üble, verzweifelte Vorgehensweisen gibt. Zurück bleibt ein
vages Schwummern, weil man sich an Gefühle nur auf der Schwelle zwischen Traum,
Rausch und Deja-vu erinnern kann.
Das alles soll uns nicht weiter interessieren, weil es jeder
kennt und niemand erklären kann. Eigentümlich wird die Sache erst, wenn sich
die Verknallung und der folgende Verwachsungsprozeß auf ein einziges Detail
beschränkt und alles andere ausblendet oder gar nicht wahrnimmt. Zum Beispiel
eine Stimme. Zum Beispiel die Stimme von Nina Persson, die zum Beispiel mich an
einem trüben Oktobertag 2005 mit solcher Vehemenz überwältigt hat, daß die
üblichen Bilder von Tornados, Fluten und Feuerstürmen nicht im Ansatz zur
Allegorisierung hinreichen. Nach wenigen Minuten war mir durch und durch klar:
Ohne diese Stimme wollte, konnte, durfte ich nicht mehr leben, und daß ich mich
mit einem anderen Menschen und dessen nächtlichen Piepsgeräuschen verwachsen
durchaus zumindest wähnte, spielte dabei und insgesamt nicht die geringste
Rolle.
Dabei kannten wir uns längst, jahrelang, waren uns sogar
schon mal in echt begegnet, ohne daß sich da mehr ergeben hätte als eine
gewisse, angenehme, nicht weiter erhebliche Sympathie. Mag auch sein, daß die Situation eine Rolle
spielte – man ist manchmal empfänglicher für so etwas als anderswann. Aber das
war mir wie allen Verliebten und hinfort Liebenden vollkommen egal. Egal auch,
daß der verwachsene Echtmensch irgendwann ausgegraben und abgetrennt wurde und
spurlos verschwand, wie das Echtmenschen halt tun. Andere kamen und
verschwanden auf selbige Weise, ohne viel zu hinterlassen, höchstens ein
gelegentliches, anflugweises Schwummern; aber die Stimme von Nina Persson auf
„Super Extra Gravity“ blieb und bleibt und veredelt jede Situation, die sie mit
mir teilt, zur silbern bestrahlten, golden strahlenden Erinnerung.
Seltsam, so was. Es ist ja nämlich nicht so, daß Nina
Perssons Stimme nicht Fehler gemacht hätte, zuvor und seither, und weiterhin
Fehler machen würde, mit Sicherheit. Aber Liebe setzt zum Glück die Vernunft
außer Betrieb und erzwingt bedingungsloses Verzeihen (weil sie sich sonst
selbst außer Betrieb setzt, aber solche Feinheiten sollen uns jetzt nicht weiter
interessieren). Man leidet mit, freilich, nimmt die Verzettelung in
Belanglosigkeiten ebenso hin wie eine halbscharige Vorgeschichte und plumpsende
Ausrutscher: Der Kern, von dem alles ausgeht und an dem alles hängt, bleibt
unberührt.
Geduld gehört auch dazu. Seit „Super Extra Gravity“ hat die
Stimme von Nina Persson wenig getan: kein neues Album mit den Cardigans, ein
hübsches Duett mit den Manic Street Preachers, ein paar Belanglosigkeiten mit A
Camp, ein halber Ausrutscher mit Dangermouse und Sparklehorse – nichts, dessen
Jahreszahl an dritter Stelle „1“ lautete. Eigentlich ist das egal. Die Sucht,
von Schönem immer mehr haben zu wollen, statt das Leben mit dem zu füllen, was
man hat, endet oft im Wahn. Aber die Neugier (s. o.) ist ein schlimmer Verführer
…
Ich gebe zu: An „Super Extra Gravity“ kommt „Animal Heart“
nicht heran. Aber es kommt auch kaum etwas, was die Stimme von Nina Persson
zuvor und danach gemacht hat, an „Animal Heart“ heran, und endlich, endlich
klingt sie hier wieder so, wie sie klingen muß: schwer, tief, schwerelos
schwebend, leicht verletzt und leicht gezeichnet, melancholisch stolz, ewig
weise und naiv, alles erfüllend und durchsichtig schimmernd, groß und
bescheiden, traurig, hilfreich, einsam und vertraulich … ach, Worte. Ich kann
nicht versprechen, daß jeder oder auch nur jemand, der dieses Album hört, erlebt, was ich an
jenem trüben Oktobertag 2005 erlebt habe. Aber einen Versuch ist es wert.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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