Die Erdbeer-Gang, so benannt zu Ehren der bedauernswerten
römischen Legionäre, die einst im Auftrag des Druiden Miraculix entsandt
wurden, um zur absoluten Jahresunzeit Erdbeeren für einen vermeintlichen
Zaubertrank zu erstehen, zieht Zwischenbilanz: Und wie (fast) immer ist es die
der Erdbeer-Gang angemessenste Aufgabe, in den weiten Breiten zwischen Ural und
Atacamawüste hörenswerte Musik zu entdecken, die zwischen 16. und 21. Dezember
erscheint.
„So dumm“, erklärt der Marktexperte, „ist niemand. Ein
nennenswerter Absatz ist so gut wie ausgeschlossen, da jedermann Geschenkboxen,
Weihnachtsalben, Best-of-Ramsch und Lieblingsplatten der letzten vier Jahre in
Deluxeausgaben für Neffen und Tanten ersteht.“
„Genau“, sagt der Zyklusforscher, „und wenn die Läden nach
Weihnachten wieder öffnen, ist oder wäre das Zeug veraltet und könnte höchstens
nächstes Jahr als Deluxeausgabe neu angeboten werden, was aber keinen Zweck
hat, da es ja niemand kennt.“
„Und sowieso“, fügt der Verhaltensanthropologe hinzu,
„verbringt der Mensch die ‚stillen Tage’ am liebsten damit, in Vergangenem zu
kruschen und sich an Erinnerungen an musikumspülte Lebensmomente zu ergötzen.
Wenn er nicht, wie der moderne Musikologe, ohnehin beide Ohren voll zu tun hat,
um die Halden und Hekatomben an Zeug abzuarbeiten, das in den letzten Wochen in
die Läden gestapelt wurde.“
Alle nicken einmütig, man serviert Glühwein und beschließt,
die Ausnahmen unter „Kuriosa und Parerga“ abzulegen: B.o.B, Thomas D. und
Beyoncé werden sich schon was gedacht haben.
„Moment mal“, gibt der Medienmodernist zu bedenken, „was
heißt schon ‚erscheinen’? Und was heißt hier ‚Läden’? Wer geht denn noch in
Läden? Macht der Internetversandhandel etwa Weihnachtsferien?“
Man winkt ab: Mehr Weihnachtsramsch als auf einer einzigen
Amazon-Empfehlungsseite ist in der gesamten Nachkriegsgeschichte des deutschen
Schallplattenhandels nicht zu finden. Müßig, das zu durchpflücken. Statt
Erdbeeren wird man nur vertrocknete Marshmallows finden. Erneut: einmütiges
Nicken. Der Glühwein köchelt. Zunächst bemerkt niemand die merkwürdig sanften,
einfühlsamen, leicht verloren-melancholisch-fröhlichen Klänge, die durch den
Raum perlen. Der Musikentdeckungsbeauftragte wird dann doch aufmerksam.
„Was ist denn das?“
„Was ist was?“ Man lauscht. Ein allgemeines „Oh!“, wohlig
und wundersam entspannt.
„This year is new“, flüstert der Nischenarchäologe, dessen
mildes Grinsen mehr ahnen läßt als es verrät. Und als das fragende Geschau
übermächtig wird, erzählt er:
„‚Erscheinen’ ist, der weihnachtlichen Tradition
entsprechend, ein Vorgang, der sich den gewohnten Mechanismen entzieht. Niemand
suchte den Stern im Kaufhaus, den Messias in der Gebärstation, Weihrauch und
Myrrhe im Gartencenter. Hier erklingt eine … nun ja, verlängerte EP mit sechs
Liedern von Haley Bonar, einer inwendig wie äußerlich wundersam schönen Dame
aus dem amerikanischen Westen, die fast niemand kennt, weil sie wie ein
Schmetterling durch die US-New-Folk-Szene turbelt und flittert und kaum Spuren
hinterläßt. Sie war mit der vielleicht leisesten Band der Welt auf Tour – Low,
deren Gitarrist sie bei einem Songslam entdeckte, woraufhin sie anderntags die
Schule schmiß, ihren Honda Civic mit Gitarren und einem Schlagzeuger belud und
losfuhr –, hat Aufnahmen mit Freunden von Bon Iver, Ben Kweller und Andrew Bird
(und diesem selbst) gemacht, einige mindere Preise eher verschämt verschwiegen
und ist meist dann, wenn ihr Gesicht irgendeine Titelseite zierte, in eine neue
Stadt gezogen, wo sie wieder fast niemand kennt. Wer eines ihrer vier
(„offiziellen“) Alben zufällig mal gehört hat, ist an einem leicht goldenen
Schimmer und an einer gelassenen Nonchalance gegenüber fast allem anderen zu
erkennen. Und weil Haley das gerne tut, hat sie ohne Anlaß und Produktbindung
diese sechs Stücke aufgenommen, die auf ihrer Webseite zu finden sind, als
‚handgemachtes Geschenk’. Nebenbei spielt sie übrigens in einer
Postpunk-New-Wave-Band und wird im Frühling sicherlich ein neues Album
veröffentlichen, weil sie sozusagen der Frühling ist.“
„Ja hm“, sagt der Marktexperte, „ist das denn erlaubt?“
Hingebungsvoll lauscht die Erdbeer-Gang und wird sich einig:
Es ist sogar absolut unerläßlich.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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