Daß es einen „Weihnachtsmann“, der irgendwie aus dem
Amerikanischen herkäme, nicht gibt, ist so gut wie gesichert.
Historisch-etymologischer Forschung des Instituts für galoppierenden Starksinn
an der Freien Universität Schwabing zufolge geht die Benennung auf eine
fehlerhafte mündliche Überlieferung des Wortes „Iron Man“ zurück (III.
Transärmelkanalische Lautverschiebung), und der Kerl, der ab dem Spätsommer,
wenn die Lebkuchenindustrie Vollzug meldet und ihre Erzeugnisse in die
Kohlehydratabgabestellen der Unterschichtbezirke karrt, nächtens durch die Gegend
streift und kleine Kinder schreckt, indem er mit seiner Rute wedelt und „Ho!
Ho! Ho!“ grölt (ohne den historisch verbürgten Zusatz „Tschi-minh!“, der
höchstens noch zu Zeiten von Grippeepidemien erklingt), – dieser zwielichtige
Bursche ist natürlich niemand anderer als Ozzy Osbourne.
Jetzt kreucht Ozzy wieder da draußen rum, wenn der Sturm
schneit und der Schnee stürmt, und krächzt, er wolle uns „fucking“ hören, aber
darauf fallen wir nicht mehr rein. Nämlich haben uns Norah und Billie Joe (so
herum gebietet’s die Höflichkeit, werte Plattenbenenner!) daran erinnert, was
man tun kann, wenn ein knisterknackendes Holzofenfeuer, Zimtorangenduft,
dampfender Glühwein und gelbwarmes Kerzenlicht nicht ausreichen, um die Welt
zur heilsten von allen zu wandeln und den Ozzy zu bannen: eine ururalte Platte
aus dem Regal ziehen, die so buttersüß und schlicht tönt, daß sogar die
Verfilmung einer Atombombenexplosion mit solcher Vertonung zum hinreißend
romantischen Idyll wird.
Das war damals durchaus nötig, 1958, weil da alle paar
Monate irgendwo auf der Welt eine Atombombe explodierte und man auch ansonsten
so wenig friedlich gesonnen war, daß in dem zehnjährigen Ozzy vielleicht schon Klagelieder
über „War Pigs“ und die „Hand Of Doom“ herankeimten. Auch ungefähr zehn waren
Phil und Don Everly in der kaum weniger grimmen Nachkriegszeit, als Papa Ike sein
Liederbuch zur Hand nahm und ihnen zum Trost zwölf alte Volksweisen beibrachte,
die sie 1958 auf dem trefflich betitelten Album „Songs Our Daddy Taught Us“ so
tröstlich schön, entwaffnend nüchtern und demutsvoll herzig trällerten, dass
daneben ein Elvis mit lautem „Flump!“ im Schmalzkessel versank.
Freilich ist das lange her, aber hat sich die Welt gebessert
in den 55 Jahren, die uns in einer Zukunft versetzt haben, angesichts derer
sich damalige Science-fiction-Autoren vor Verzweiflung entleibt hätten und in
der Atombomben ein alter Hut sind, für den man sich nur noch in Nordkorea
interessiert?
Nein. Und drum ist’s nur zu verständlich und löblich, wenn
Billie Joe Armstrong (o ja, der von dieser Comic-Punkerl-Gruppe – man sollte
niemanden unterschätzen!) und Norah Jones (o ja, die konsenssüße
Grammysammlerin – man sollte auch niemanden überschätzen) bei einer gemeinsamen
Singstunde mit Stevie Wonder auf die Idee kommen, Trost bei einer ururalten
Everly-Platte zu suchen, die 14 bzw. 17 Jahre vor ihrem Sturz in diese Welt
Atombomben mit Lametta behängte und den Menschen eine schimmernde Träne der
Freudentrauer aufs Lid zauberte.
Denn es gibt einen Kitsch jenseits vom Kitsch: die
„Überwindung des Leidens durch dessen Veräußerlichung“ (Ludwig Hohl) in reiner,
schmuckloser Schönheit; es gibt einen Klang knapp neben der Stille; es gibt
Lieder wie „Roving Gambler“, die mit einem einzigen Akkord alles über das Leben
erzählen, und solche wie „Barbara Allen“, in deren wenige Zeilen die Ewigkeit
der Liebe eingeschrieben ist und noch nach einer Million Interpretationen in
(mindestens) 350 Jahren mit klarer Stimme aus ihnen spricht.
Und wer die singt, ist eigentlich egal. Das könnte auch Ozzy
sein.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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