Manche Sachen verschwinden im
Strudel der Zeiten so vollständig, daß, wenn sie plötzlich wieder auftauchen,
man sich verblüfft fragt, wo sie die ganzen 35 Jahre waren. Wie diese Band,
diese phantastische Band, die wir damals im Theatron … Nein, da holen wir jetzt
weiter aus.
Was
das für ein Sommer war, ab Mai: dreißig Grad, Geschichtsstunde über den
Vietnamkrieg, der gerade ein Jahr her ist; Diskussionen über Atomkraftwerke,
fremde Planeten, rätselhafte Mädchen und die Fußball-EM – ganz Giesing hallt
nachts von den entsetzten Schreien über Hoeneß’ verschossenen Elfmeter; nach
den Pfingstferien hitzefrei bis Ende Juli, jeden Tag. 99 Pfennig für einen
Liter Eis im verlassenen Schulhof, ein Bier in der schwülen Dämmerung, leichter
Schwindel beim Fußballspielen, wie schwebend; lachen bis die Sonne untergeht,
fast Mitternacht, plötzlich Stille zum Flüstern, paar Pfützen um den Wasserhahn
im Pfarrgarten, mit gelben Rändern vom Blütenstaub; oder ist das Wüstensand,
wie die Bildzeitung mit rotem Kopf meldet? Das ganze Viertel stöhnt vor Hitze,
die Wohnungstüren offen, Durchzug, wieder zweiunddreißig Grad, es hört nicht
auf. Wetterleuchten beim Einschlafen; die Ferien nähern sich unendlich langsam,
Schulausflug ins Isartal, Science-Fiction-Heftchen im Michaelibad, giftgrünes
Wassereis zwischen den Fingern beim Heimradeln, Flaschendrehen in der Heuwiese,
und ewig, ewig Sonne ohne Zeit.
Einer
erzählt: im Theatron spielen Bands, umsonst. U-Bahn am Marienplatz kurz vor
halb zwei: voll bis zur Türkante, ein Meer von Jeans und Haaren; am
Olympiazentrum robbt die Schlange dahin, beim Schwimmbad ein Blick nach unten:
wow! Massen! Wolken von Haschisch, entspannter Fusionsound aus der schwarzen
P.A.; keine Bühne, nur ein Steinrund am Wasser, in der Mitte geteilt von ein
paar Gitterständern; hinten die Coolen, rauchen, halten Gitarren, Soundcheck;
ein Frisbee über der Menge; einer ist besoffen, mit Lederhut und Sonnenbrille,
alle lieben ihn.
Dann
Sound, der entsteht wie aus dem Moment; zwei Mädchen in Indienhemden, barfuß
auf dem Betonstein, mit Schlangenarmen. Ein klebriger Haufen Melonenkerne am
Stein, jemand mit besonders langen Haaren und lila Batikspirale kämpft sich mit
einem zusammengenagelten Bauchladen durch die Ränge, verkauft das 76. Blatt,
„die Stadtzeitung für München“, ein anderer verteilt Blätter mit den Texten der
Band.
Umbaupause;
nebenan ein Zungenkuß, Rauch, Wind; der Kopf wird leer und füllt sich; noch
eine Band, die vorbeiplätschert in aufgeregt flüsternder Vorfreude, denn dann
kommen sie, die Bluesrockvagabunden aus der Landkommune, auf die alle warten:
Bullfrog. Kommen aber nicht; die Sonne hinter dem Stadion plötzlich von
bleigrauen Wolken verschattet, der Wind wird zum Sturm, der die Plastikplane über
der Bühne zaust. Aufbruch, mit lustig wirrem Kopf in der U-Bahn, abends wird
die eigene Band gegründet, die nie auftritt, weil niemand weiß, wie das geht.
Ein
neuer Sommer; wieder pilgern alle ins Theatron zu Bullfrog, die es mittlerweile
sogar auf Platte gibt; und wieder wuchtet ein Gewitter alles weg, bevor es
losgeht. Immerhin: Der Dürre mit den halbmeterlangen Haaren, der da hinten
steht, achselzuckend, die Gitarre um den Hals, die er vergeblich stimmt; das,
weiß einer, ist Sebastian Leitner. Den Rest des Sommers bleibt die Platte: „I
came from the sky“, krächzt Gerd Hoch, geschlossene Augen, wippende Köpfe,
Träume von Susi und Monika.
Die
Wege trennen sich, es werden immer mehr; Bands auch: Ramses, Breakfast, Harlis,
Cry Freedom, Guru Guru; dann wieder Bullfrog, die diesmal tatsächlich spielen,
im Sturm, im Hagel, der sich in der Plane sammelt und übers Schlagzeug ergießt,
was niemand merkt und keinen stört; alles ist eins in der Musik, alle spüren:
Das ist der Höhepunkt, danach alles zu Ende, der Friede, die Ewigkeit,
Ausschließlichkeit, Einigkeit, das Schweben.
Neue
Geheimnisse, Chaos und Wirrnis, Jahre und Jahre, alles verweht, und plötzlich
ist Bullfrog wieder da, auf CD nur, weil inzwischen zur Hälfte tot. Das milde
Lächeln über die kindischen Träume, die wolkigen Bilder gerinnt beim Hören zur
Fassungslosigkeit: Menschenskind, wie GUT die waren! Das reißt einen mit und
weg, hinüber und hinauf und zurück in die Welt, in der es alles, was seitdem
passiert ist und inszeniert wurde an lächerlich buntem Tralala, nie gegeben
hat, und da steht man wieder vor der Box von Sebastian Leitner, durchflutet von
seiner Gitarre, aus der Liebe, Wut und Sehnsucht brüllen, ewig, während der
Sturm tobt und die Welt ertrinkt.
Kann
das verstehen, wer nicht dabei war? Versuchen, es lohnt sich!
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint (so gut wie) vierzehntägig im Stadtmagazin In München.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint (so gut wie) vierzehntägig im Stadtmagazin In München.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen