Es ist eine wilde, wirre Welt, in der immer alles
gleichzeitig passiert und das zu neunzig Prozent unbewußte Bewußtsein einem
Hagel von Signalen, Zeichen und deren gleichzeitiger Deutung und Auslegung ausgesetzt
ist.
Wer sein Leben mit rebelliöser bis relevantoider Popmusik
gestaltet, weil Sex, Drogen und schönes Herbstwetter ohne Popmusik keinen Sinn
haben, bei dem ist dieser Hagel ein alles umfassender Tornado. Es klirrt,
scheppert, dröhnt, rummst, brüllt, säuselt, zupft und wabert, und vergeblich
sucht man nach Ordnungen oder Ordnungssystemen, bis man endlich kapiert, wie’s
geht: Hineinfallenlassen in den Ozean der Geräusche und Zufallsbotschaften,
untertauchen, schwimmen, treiben.
Man könnte mal eruieren, wie viele Aufnahmen von „wichtigen“
Künstlern der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts in den
letzten Wochen und Monaten neu erschienen sind. Also zum Beispiel: acht oder
zwölf Pseudobootlegs von den Rolling Stones (das Hyde-Park-Konzert gleich
zweimal in sogenannten „Formaten“), 63 neue BBC-Aufnahmen von den Beatles – wie
lange braucht ein durchschnittlich behirntes Menschenwesen, um in diese Lawine
von Mitteilungsdran einen Sinn hinein oder aus ihr herauszuhören?
So erklärt sich die Relevantoidität und der Reiz einer,
nein: mehrerer Kunstrichtungen, die, anstatt zu filtern (wie das früher
Radio-DJs zu tun pflegten, ehe man sie zu ferngesteuerten One-Liner-Aufsagern
mit kommerziell programmierten Playlists degradierte), alles in einen Mixer (!)
fließen- und es dem Zufall überlassen, was davon übrigbleibt. So gerät der
Hörer des neuen Eminem-Albums neben vielen Selbstbezüglichkeiten und ungefähr
je 20 Co-Produzenten und Gastauftritten im Vorbeirauschen in den Genuß von
Dingen, mit denen er wahrscheinlich nie etwas zu tun haben wollte: „Life’s Been
Good“ von Joe Walsh (Papa fragen!), „Time Of The Season“ von den Zombies und
„Game Of Love“ von Wayne Fontana (Oma fragen!), „Ode To Billie Joe“ von Lou
Donaldson (Geschichtslehrer oder Cypress Hill fragen!), „The Stroke“ von Billy
Squier (am besten gar nicht fragen!) und sowieso Naughty By Nature, Beastie
Boys etc. pp. – you name it, you got it, irgendwie.
Bei Mathangi Arulpragasam ist das ähnlich, aber auch ganz
anders; ein Blick auf ihren Wikipedieeintrag macht klar: Dieser Vulkan an
Klang, Stil, Politik, Mode, Botschaft, Psychologie, Aktivität und Ausdruck ist
zu viel für einen Geist. Da muß nun doch ein Filter her, oder müßte, weil
andererseits: Hey, es geht um Musik! Welche juristischen Streitereien wegen
eines gestreckten Mittelfingers Miss Arulpragasam mit der National Football
League ausficht und ob sie wirklich, wie die „Village Voice“ mal meinte, „ein
veritabler Strudel von Diskurs zu höchstwahrscheinlich unlösbaren Fragen
bezüglich Authentizität, Postkolonialismus und Dilettantismus“ ist – hach,
müssen wir diesen Authentizitätsstrudel wirklich so lange aufbacken, bis nur
noch Quark drin ist?
Ich erinnere mich dunkel, daß wir diese Diskussionen schon
geführt haben, und zwar damals, als The Clash 1980 über die USA hereinbrachen
und ein diffuses Gesamtgefühl von Aufbruch, Revolte, Verwirrung, einer
Explosion widersprüchlicher und dadurch eventuell letztlich irrelevanter
Zeichen erzeugten. Da hatten Soziologen und postmoderne Theoriewiederkäuer was
zu tun; aber letztlich war’s egal: Das Gefühl war geil.
Und ich weiß, man wird mich auslachen und meine Einpackung
in eine Zwangsjacke fordern, aber: „Matangi“ versetzt mich in dieselbe diffuse
Gesamtstimmung wie „Sandinista!“ (mit modernen Klangmitteln – andererseits:
etwas Moderneres als „Sandinista!“ wird es vielleicht nie geben), und wenn das
sinnlos, verlogen, unauthentisch, plakativ, bigott, anbiedernd,
kontraproduktiv, philisterhaft, hohl, scheinheilig und letztlich bloß ein
bunter Sturm von Nichts ist – egal. Es ist geil; es ist wild und wirr, und
alles passiert gleichzeitig. Es ist also: die Welt.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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