Das Jahr neigt sich, und vor uns neigt sich das Land der
Kante zu, an der das Wasser jetzt ruht, nachdem es einen Herbst lang leise
flüsternd sich erinnert hat an die Stimmen der Menschen, die sommers hier
lagerten und ihre Tage verdämmerten.
„Wie lang das her ist“, flüstert L, und sie klingt wie das
Wasser.
Der Blick nähert sich dem Gras, auf dessen Spitzen
sandkorngroße Kristalle von reinem Weiß das Gewese, das zu wärmeren Zeiten
zwischen und auf den Halmen stattfindet, simulieren, indem sie zufällig
eingefangene Sonnennadeln tanzen lassen. Unser Atem bildet abwechselnde Wolken,
die aussehen wie Sprechblasen ohne Buchstaben.
„Nicht so lang“, sage ich, „paar Wochen?“
„Ewig“, sagt L.
Weil das Wasser schweigt, summen wir ein Lied: „With a start
he was awoken /
From the middle of a dream /
He’s making movies in his head /
That
never will be seen /
He’s holding Oscars in his hands /
And kissing beauty
queens /
What might have been /
What might have been.“
Der Himmel leuchtet ultramarin, so grell und perfekt und unendlich,
daß man sich wünscht, er hätte ein paar Falten oder Kratzer. Vögel stürzen sich
in unwirklich weiter Ferne durch den Raum, und das Wasser schweigt.
„Ab wo wird der Himmel schwarz?“ fragt L und kneift die
Augen zusammen.
„Überall“, sage ich. „Du mußt nur einen Punkt fixieren,
genau einen Punkt.“ Dann, denke ich, siehst du, daß das Blau eine Illusion ist,
die durch Streuung entsteht.
„Es gibt keinen Punkt“, sagt L und lacht in ihre Sprechblase
hinein.
„Doch“, sage ich, und dann fixieren wir einen Punkt, der
plötzlich schwarz wird, und je mehr der Blick hineinsinkt, desto größer und
schwärzer wird er, während alles um ihn herum verschwindet. Endlich ist alles
schwarz, und wir staunen, wie hell Schwarz sein kann.
„Astronauten, die auf die Erde herunterblicken, ändern ihre
Einstellung zur Welt und zum Leben“, sagt L, die das in einem Film gesehen hat.
„Sie werden bewußter, haben mehr Demut und Achtung, weil sie die großen
Zusammenhänge verstehen.“
Das klingt so überzeugend, daß es falsch sein muß. Ich sage
nichts, weil L das ebenso gut versteht.
„Andererseits“, sagt sie, „sähe dieses Jahr aus großer
Entfernung aus wie ein kurzes, verschwommenes Huschen. Das ganze Leben, aus
noch größerer Entfernung, wäre eine schnelle Folge von verschwommenem Huschen.
Wie soll man Demut spüren ohne Einzelheiten?“
„Vom Weltall aus“, sage ich, „wirkt alles natürlich. Die
schrecklichste Fabrik, der fürchterlichste Komplex von Atomanlagen bekommt
etwas Erhabenes, Stilles, Ewiges, Ehrfurchtgebietendes. Das ist die Demut, die
man in der Weltuntergangszeit braucht: Die Gewißheit, daß die Vernichtung
göttlich und schön ist.“
Jemand ruft in der Ferne nach seinem Hund: „Hierher!“ Ich
stelle mir vor, er könnte auch etwas anderes rufen. „Ultramarin!“ zum Beispiel.
Dem Hund wäre das egal.
„Wie heißen diese komischen Blumen, die seit ein paar Jahren
in allen Fenstern stehen?“ fragt L und löscht ihre halbgerauchte Zigarette an
reinweißen Kristallen, die leise zischend vergehen.
„Schmetterlingsorchidee“, sage ich.
„Genau. Ich hab’ gehört, daß es davon vor ein paar Jahren
nur ganz wenige gab. Inzwischen leben ungefähr zehn Milliarden von ihnen auf
der Erde. In jedem Supermarkt, auf jedem Fensterbrett steht eine. Es gibt mehr
Schmetterlingsorchideen als Menschen.“
„Vom Weltraum aus wird man davon nichts sehen“, sage ich.
„Vom Weltraum aus sieht man gar nichts“, sagt L, „nicht mal
den See, der könnte auf einen Schlag verschwinden und durch einen Supermarkt
voller Schmetterlingsorchideen ersetzt werden, kein demütiger Astronaut würde
was bemerken.“
„Das ist der Fluch der Größe, Weite und Ferne“, sage ich,
und L schlägt mir lachend ihren Handschuh auf den Kopf. „Du Scheißidiot“,
kichert sie, „jetzt ist das Bild geplatzt. Ja, ein Astronaut sieht auch nicht,
wie das Fußballspiel ausgeht. Daß Reichtum ein Verbrechen ist. Und wie du hier
immer rumlümmelst und dieser Blonden nachglotzt.“
Der anbrechende Nachmittag macht ein Geräusch wie Schaum.
Wir horchen an unseren Bierflaschen.
„Wir sollten nur im Winter Bier trinken, bei minus fünf
Grad“, sagt L. „Das ist so geil, wenn es eiskalt im Bauch ankommt.“
„Und was machen wir im Sommer?“
„Im Sommer schießen wir uns ins Weltall und bewerfen die
Erde mit Schmetterlingsorchideen und Fabriken. Vielleicht bemerken die da
drunten was.“
Mittlerweile hat sich der Himmel verändert, ist jetzt von
einem bleiernen Blaugrau, in dem sich alles entfernt und seine Zeit verliert.
Über dem See treibt ein fast unsichtbar dünner Nebel, vielleicht von unseren
Sprechblasen.
„Ich bin zu müde zum Gehen“, sagt L. „Bleiben wir einfach hier.“
„Das denkt sich das Jahr auch“, sage ich, „aber dann wäre es
verloren, wie wir.“
Das Wasser schweigt. Im Frühling wird es wieder flüstern.
Wir stellen unsere leeren Flaschen auf eine Bank, von wo sie
jemand mitnehmen wird, der vielleicht weiß, daß Reichtum ein Verbrechen ist,
weshalb seine Demut von anderer Art ist als die des Astronauten, der ihn nicht
bemerkt, während er von Gott und seiner Schöpfung quatscht.
Und dann gehen wir, unserer Wärme entgegen. Und einem neuen
Jahr, das noch länger sein wird, noch unendlicher, noch ewiger.
„Bäh“, sagt eine Krähe, die uns von einem kahlen Nußbaum aus
mißmutig betrachtet, vielleicht weil sie etwas ahnt, was wir nicht wissen
wollen.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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