Das Wort „Single“ gab es schon, als ich ein Kind war und
ansonsten kaum Anglizismen im Alltagssprech herumschwirrten. Damals bezeichnete
es kleine, grellbunt verpackte Vinylscheiben, Zauberwerke der Popkultur, die
alle paar Wochen einen neuen Wahnsinnshit meiner Glamrock-Helden Slade, T. Rex,
Bowie, Sweet, Roxy und Alice Cooper ins Haus dröhnten und den Aspirinkonsum
unter Eltern ankurbelten. Ein paar Jahre später, als die Springerpresse den
Deutschen endlich ihr Solidaritätsgedusel ausgetrieben und die
Lambsdorf-Kamarilla den Wirtschaftsfaschismus als neue Staats- und
Gesellschaftsraison durchgepeitscht hatte, war „Single“ keine Platte mehr,
sondern ein Mensch, der sich aus freien Stücken entschlossen haben wollte, ohne
lästige Anhängsel wie Ehepartner und Bamsenbagage durch ein Leben der
sensationellen Berufserfolge und Freizeitbelustigungen zu flanieren – ein Heros
der neoliberalen Ära, frei und selbstbestimmt im globalen Supermarkt der
Achtziger.
Als dann die Belustigungsindustrie den „Single“ – der seine
zunehmende Verzweiflung darüber, daß er zwar jede Menge „Zukunft“, aber
keinerlei Vergangenheit („Nur nach vorne blicken!“) und deshalb auch keine Gegenwart
hatte, mit exzessivem Ankauf von Produkten betäubte – mehr oder weniger
leergezapft hatte, irrte der arme Wurm durch die Welt wie ein Brummkreisel, in rotierende
Raserei versetzt durch alle möglichen esoterischen und karrieristischen Wahnmodelle,
Rave-Klamauk und Ibiza-Schaumparties, auf der wirren Suche nach einem Sinn, den
es ohne Gegenwart in der Welt halt nicht geben kann.
Und siehe da: Schon dämmerte eine Renaissance der
Kleinfamilie heran, angeblich wenigstens; überall begegnete man plötzlich händchenhaltender
Ausschließlichkeit, treuherzigen Kitschblicken und zunehmend am ebenfalls
unverzichtbaren SUV-Panzer orientierten Kinderlastwagen, in denen eine Familie
der vorletzten Jahrhundertwende ihren gesamten Hausrat mobilisieren hätte
können. Selbst die explodierende Zahl von Schnellscheidungen konnte die
vielbeschworene „biologische Uhr“ nicht hindern, so laut zu ticken, daß die
Gesamtgesellschaft des angeblich so freien WWW-Zeitalters nach ihrem Takt
marschierte.
„Single“ war nun fast ein Schimpfwort, mindestens mit
mitleidigem Trauerflor und der unverzichtbaren Präzisierung „noch“ behängt – „Du
bist noch Single?“ Händeringend beklagten Klatschsüchtige das tränenwerte
Schicksal frisch getrennter Hollywoodstars und einsam in ihren Trutzburgen
gammelnder Millionenadeliger: Ach, die armen „Liebes-Pechvögel“!
Neulich hat mir A von ihrer Jahre währenden Suche nach „dem
Richtigen“ erzählt, woraufhin ich eine geistig-emotionale Deformation durch
übermäßigen Genuß jener Fernsehserien diagnostizierte, die vorgeblich „frech“
vom vermeintlichen Liebesleben amerikanischer Großstadtwesen erzählen und in
Wirklichkeit genau die Utopie vermitteln, der A offensichtlich verfallen war:
Es müsse doch irgendwo da draußen „den Einen“ geben, der schicksalsgenetisch
exakt zu ihr passe und sie zu dem ergänze, was sie allein nicht sein könne.
Wenn, wandte ich ein, dieser Kerl wirklich irgendwo herumschwirre, sei
jedenfalls angesichts der Größe und Verwinkeltheit des Planeten die
Wahrscheinlichkeit, ihm zufällig zu begegnen ungefähr so groß wie drei Sechser
im Lotto hintereinander – weshalb ja auch die elektronische
Verkuppelungsindustrie das Ideal längst zum Muster kastriert hat: zwei, drei
gemeinsame Interessen, ungefähre Wohnortnähe, der Rest (Urlaub, gemeinsame
Mahlzeiten, Fernsehprogramm, Sport- und Geschlechtsaktivitäten) läßt sich
notfalls vertraglich regeln, und fertig ist das Zweierglück mit dem
konditionierten X-Beliebigen, das man bei Nichtgefallen jederzeit mit einer
kurzen Facebook-Notiz annullieren kann.
A sah mich mitleidig an und fragte noch mitleidiger, ob ich
es nicht leid sei, einsam und ohne Sinn durch die Welt zu irren, und da platzte
mir der Kragen: Einsam nämlich sind nicht etwa „Singles“, die solche in den
meisten Fällen gar nicht sind, sondern in einer Vielzahl von Beziehungen Liebe,
Freundschaft, Sex, Aufregung, Romantik, Zärtlichkeit, Spannung, Geborgenheit, Treue,
intellektuellen Reiz, Vertrauen und all die anderen Dinge erleben, die der Zweiermensch (nennen
wir ihn meinetwegen „Double“) aus einer einzigen Bezugsperson heraussaugen
möchte plus eventuell einem zusammendestillierten Kreis öder gemeinsamer
Bekanntschaften, die man monatlich zum Essen trifft, um bemüht darüber zu
plaudern, wie toll früher alles war und was man beruflich so vorhat, und hinterher
ein stinkfades Brettspiel zu absolvieren. Nach gut vier Jahren als „Single“,
erklärte ich A, wisse ich ziemlich genau, welche Fallen man vermeiden müsse
(vor dem Duschen prüfen, ob ein Handtuch da ist, nie ohne Schlüssel den
Abfalleimer ausleeren usw.), und jeder einzelne Versuch (ich bin ja auch nur
ein Mensch), doch mal eine exklusive Verbindung herbeizuführen, führe nach
seinem Scheitern zu Erleichterung und „endlich wieder“-Jubelrufen.
Hingegen die Vorteile: Weg fällt das ganze Gestrüpp aus
Lügen, Heuchelei, Konzessionen und Vertuschungen, die brennende Sehnsucht nach
romantischen Verirrungen, sexuellen Abenteuern und zum Beispiel auch danach, um
drei Uhr früh ohne schlechtes Gewissen alte Glamrocksingles dröhnen zu lassen
und nackt durch die Wohnung zu tanzen. Weg fällt auch die unausweichliche
Einsicht am Ende, einen unwiederbringlichen Teil seines Lebens einem unwürdigen
Arschloch geopfert zu haben.
Und sowieso, sagte ich zu A, sei es vernünftiger, sich
erotischen Vergnügungen hinzugeben, als den Abend damit zu vertun, derart
unerfreuliche Dinge zu disputieren. Das, meinte sie, könne sie aber nicht ohne
Aussicht auf „mehr“, womit sie sich als eine bislang noch nicht erwähnte
Erscheinungsform des „Single“ outete: der Verzichter, der sein Leben verzinst
sehen möchte. Meine Frage, ob sie denn von ihrem nächsten „Richtigen“ eine
Belohnung für diese Selbstkasteiung erwarte und welche und wieso, konnte sie
nicht beantworten, weil sie schon dabei war, sich anders zu entscheiden.
Schade, es hätte mich vielleicht doch interessiert. Vielleicht.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN, diese Folge am 23. Juli 2013.
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