Oder fragen Sie Michael Stipe, einen Pharao des 80er-Indie-Rock, der seine Pyramide schlauerweise nicht an einem Ort, sondern in sämtlichen zeitgeisthörigen Plattenregalen der Welt errichten ließ. Danach indes machte er sich bei seinen Zeitgenossen so peinlich und unbeliebt, daß nur noch die geschlossene Kleingemeinde der Alt-Indie-Jünger klandestin alljährlich auf ein neues Monument hoffte. Heute kennt man kaum noch seinen Namen, und wer zufällig den Klang seiner Pyramide erlauscht, wähnt ihn längst im Reich der Toten.
Oder fragen Sie mich nach meiner Geschichte mit Michael Stipe, und ich sehe ein langes Gleis mit ein paar Bahnhöfen. Zwei (oder vier?) goldene Sommerwochen in einer Mansarde am Gärtnerplatz mit TL, die „Murmur“ auf Kassette aus Texas mitgebracht hatte (Rückseite: ein Demo von 3 On A Hill, nie gehört); „Radio Free Europe“ und „Catapult“ im Morgenlicht über den Dächern der Reichenbachstraße, während sie fröhlich mitsummend ihre Socken suchte und der Kaffeekocher augenzwinkernd hüstelte. Eine katastrophisch verregnete Dezembernacht mit K in einer Hütte am Wendelstein, wo der krächzende Kleinfernseher uns einzige Gäste im gelbdunklen Nachtschimmer mit „It’s The End Of The World (As We Know It)“ zu ekstatischen Vereinigungen trieb, deren symbolischer Gehalt morgens im grauen Dauernaß der Autobahn wie eine Bierdeckelpyramide (sorry) zu Pappmaché zerfloß. Ein benebelter Frühherbstnachmittag mit M in einer anderen Mansarde am Nordbad oder nicht weit davon (kein Fenster diesmal), wo die ungeahnt homogene Kraft von „Life's Rich Pageant“ zwischen Giant Sand, Stone Roses und Robyn Hitchcock die klaustrophobische Enge des (ungefähren) Pyramidendachs zu stratosphärischer Ewigkeitsahnung weitete (Doppelsorry!). Und der wild berauschte Winterfrühlingsommerherbst mit C, G, V und I und anderen zwischen vergessenen Festen, Straßen und Clubs, ohne Tageszeit und Wochentag, dauerbeschallt mit „Automatic For The People“, so intensiv, als hätte es damals kein anderes Album gegeben. Gab es vielleicht auch nicht, oder fällt jemandem eines ein?
Danach: Blitzlichter, Peinlichkeiten. Michael Stipe als quäkender lächerlicher Clown mit schlechter Musik. Ein Freundkollege wünschte auf öffentlicher Bühne, er möge bald den Weg des Freddie Mercury gehen. Gemeint war nicht der auf den vielbequatschten Rock-Olymp, böse gemeint war's aber auch nicht; er war nur sauer über die zu Pappmaché zerflossene Erinnerung.
Ein Vierteljahrhundert später lebt das alles plötzlich neu auf beim Wiederhören eines Albums, das tatsächlich seitdem geschwiegen hat, in dem man tatsächlich (ohne Myonen) noch unentdeckte Räume finden kann. Vor allem aber klingen alle zwölf Songs von „Drive“ über die vermeintlich auf ewig totgenudelten „Everybody Hurts“ und „Man On The Moon“ bis „Find The River“ (trotz „Dolby Atmos“, was immer das sein mag) gespenstisch vertraut und zugleich völlig fremd, neu und lockend, da alles, was danach, nach dem Bruch, kam, im Staub der Epochen versunken ist.
Es hilft wenig, in den alternativen Neubearbeitungen und Beigaben (eine Liveaufnahme aus dem November 1992 mit Coverversionen von Troggs und Iggy/Bowie, viele Demos und Videos, 60 Seiten Bildbooklet) nach Aufschlüssen oder Indizien zu suchen – das Monument wahrt sein Geheimnis. Uns bleibt die Magie des Originals.
Die Kolumne "Frisch gepreßt" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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