Wer braucht eigentlich Nachbarn? Nachbarn sind das
allerletzte! Kaum will man schlafen, veranstalten sie Tischtennisturniere und
Blockflötenkonzerte oder greifen zum Preßlufthammer, um Mauern einzureißen.
Wenn man andererseits mal Gäste bewirten muß, weil aufgrund der unmenschlichen
Münchner Sperrstundenregelungen noch keine Kneipe aufhat, oder das Schaffen von
Miles Davis in den siebziger Jahren einer Neubewertung zu unterziehen trachtet,
hämmern sie mit Besen gegen die Wände, um eine angebliche Belästigung
anzuprangern.
In sämtlichen Ecken und Winkeln der Wohnung stapeln sich
ihre verpackten Konsumgüter, die sie vor Jahren bestellt und offenbar doch
nicht so dringend gebraucht haben. Aber kaum erwartet man selbst ein
lebensnotwendig dringendes Paket und muß fünf Minuten aus dem Haus und der
listige Bote hat mal wieder an der nächsten Ecke gelauert und rumpelt genau in
diesen fünf Minuten daher, dann ist keiner da, weil die Kerle angeblich
arbeiten oder sonst was müssen. Wo sie doch ganz offenbar den ganzen Tag nichts
anderes tun als Würste und andere Scheußlichkeiten in Pfannen zu verbrennen, um
das Treppenhaus zu verpesten.
Aber das sind ja nur alltägliche Kleinigkeiten! Wenn
Nachbarn durch eine unglückliche Wendung der kapitalistischen Erbmechanismen in
den Besitz von Geld geraten, hängen sie einem Balkone übers Fenster oder kaufen
sich einen Porsche, um zu Zeiten, in denen vernünftige Menschen die Zumutungen
des Alltags in Träumen verarbeiten, durch die Hofeinfahrten zu brettern und die
Terrormotoren knattern zu lassen, daß der Putz rieselt und die Vögel aus den
Bäumen fallen. Steht ihnen Grünland zur Verfügung, pflanzen sie Koniferen,
Thujen und anderes Nadelgestrüpp, durch das kein winziges Sonnenstrählchen mehr
dringt, und wenn sie ein ganzes Land ihr eigen nennen, dann kommen sie
irgendwann auf die Idee, irgendwo einzumarschieren und irgendwas zu
annektieren.
Im Extremfall. Normalerweise ist es die naturgegebene
Aufgabe des Nachbarn, sich zu beschweren und einzumischen. Zum Beispiel dann,
wenn man Sachen aus dem Fenster schmeißt, was ebenso natürlicherweise hin und
wieder sein muß, weil einem sonst der Kragen platzt und ein Magengeschwür
wächst. Das gilt insbesondere zu jener seltsamen Jahreszeit, die eventuell
Vorfrühling heißt und unter den Bedingungen der Erderwärmung ungefähr eine bis
zwei Wochen nach dem Ende des Spätherbstes (Weihnachten) eintritt: Da strahlt
die Sonne, bläut die Luft, zwitschern die Vögel, und der Mensch entsteigt
seinem Winterlager, um Vorbereitungen zu treffen, die für eine ordnungsgemäße
Durchführung des Frühlings nötig sind.
Dazu gehört, die seit den Neunzigern nicht mehr entstaubte
Wohnung „auf Vordermann“ zu bringen, in deren versteckten, selten bis nie
beachteten Schränken und anderen Lagerstätten Stapel von Studienunterlagen,
Gerichtsurteilen, Zeitungsausschnitten und anderem Zeug, das man „irgendwann
noch mal durchschauen“ wollte (und im Grunde will) langsam zusammensinken und
dabei hin und wieder einen der Silberfische plätten, die durch ihr Fraßwerk das
Zusammensinken bewirken. Weil man beschließt, daß einem das Zeug nun wirklich
endgültig nichts mehr sagt (zwanzigseitige Scheidungsurteile? mit unentzifferbar
wirren, verblaßten Graphiken gefüllte Zettel mit Aufschriften wie
„Segmentierungsvorschlag zur erzählten Zeit des Erzählers“?), füllt sich
zunächst die Altpapiertonne (Nachbar: „Da müssen Sie aber schon die Klammern
entfernen, oder sind die aus Papier, hm?“). Weil man grad dabei ist, gefällt
einem das mit großteils photokopierter Literatur zur deutschen Geschichte der
Jahre 843 bis 1970 gefüllte und ungefähr gleichzeitig mit gewissen Banken in
Schieflage geratene Regal auch nicht mehr recht. Also baut man es ab, wodurch
der Raum aus dem optischen Gleichgewicht gerät, weshalb die übrigen Regale
folgen, bei deren Entfernung man faustgroße Löcher in den Putz reißt. Man
schleppt in Staubwolken Halden von Büchern in andere Zimmer, wickelt sich in
Spinnweben und unklar gepolte Elektrokabel, kratzt Tapetenreste ab, stolpert
über Farbkübel und Klappleitern. Und spätestens beim Versuch, nach dem
Neuanstrich der Zimmerwände und des Bodens und der Decke die Regale wieder
aufzubauen, kommt das Fenster zum Zug, wenn nämlich die Kreuzschlitze der
zehnten Kreuzschlitzschraube sich erneut in ein kreisrundes Loch verwandeln und
man die Konstruktion mit der linken Hand nicht mehr halten kann, weil einem der
Bohrschrauber aus der rechten fällt und unter Mitnahme von Kaffeetasse und
Aschenbecher in die zu ihrem eigenen Schutz neben dem Arbeitsplatz gestapelten
Spiegel und Bilderrahmen kracht.
Dann heißt es: Fenster auf und hinaus mit dem Zeug! Das
Werkzeug zuerst, dann die Scherben und endlich die Malefizregalbretter! Schreitet
der Nachbar nicht rechtzeitig ein, dürfen auch die Bücher folgen, weil einen
unter anderem der Investiturstreit und die Geschichte des Trinitarierordens
sowieso nie mehr interessieren werden und die Dinger dermaßen undankbar und
schadenfroh grinsen.
Irgendwann ist die Wohnung dann so weit verwüstet, daß man
sie verlassen muß, weil sowieso gerade die Sonne ums Hauseck bricht und die
zugestaubten Lungen nach Frischluft krähen. Man steigt aufs Radl und stellt
nach vier Metern Fahrt fest, daß der hintere Reifen ebenfalls nach Frischluft
kräht oder vielmehr gekräht hat, weil er jetzt nicht mehr krähen, sondern nur
noch auf der Felge übers Pflaster scheppern kann.
Was sich anschließend abspielt, ist in zivilisierten Worten
kaum zu beschreiben. Fassen wir es sinngemäß zusammen: Wie gut, Herr Nachbar,
daß man Fahrräder nicht aus dem Fenster schmeißen kann, weil das zunächst
erfordert, sie in die Wohnung zu schleppen, was eine solche Anstrengung ist,
daß einem dabei die Wut verpufft. Und falls man's doch schafft und noch genug
Restzorn übrig ist, läuft man sperrigkeitsbedingt Gefahr, versehentlich das
Fenster gleich mit aus dem Fenster zu schmeißen, und das wäre dann doch zu
folgenreich.
Zumal nächste oder übernächste Woche möglicherweise der
Nachwinter daherkommt. Da ist ein Fenster schon ganz hübsch, wenn man gemütlich
neben dem Ofen in den Trümmern sitzt und Pläne für die Neugestaltung der
Wohnung schmiedet, während draußen – möglicherweise, wer weiß! – der
Hinterreifen wieder heilt.
Die Kolumne "Belästigungen" erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.
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